02 _ Exkurs: Information und Wissen |
Der Begriff "Wissen" stammt vom althochdeutschen "wischan" ab, welches für "gesehen haben" stand. Er bezeichnet also ursprünglich gespeicherte, aus sinnlicher (visueller) Erfahrung abgeleitete Information. Heute beschreibt das Wort im Allgemeinen die Gesamtheit der organisierten Informationen mitsamt ihrer wechselseitigen Zusammenhänge, die ein (vernunftbegabtes) System besitzt, der Aspekt der sinnlichen Erfahrung scheint also zunächst in den Hintergrund gerückt.› [2]
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Der Begriff der "Information"› [3] wiederum erlaubt zwei Herangehensweisen: Die (ursprünglich in der Nachrichtentechnik begründete) Beschäftigung mit der Struktur des Informationsträgers und die (kognitionswissenschaftliche) Frage nach der Bedeutung, die der Rezipient aus dieser Struktur gewinnt. Geht es ersterer um eine Unterscheidbarkeit von Zuständen, so setzt sich zweite mit dem (anhand eines komplexen Dekodierungsprozesses) gewonnenen Bedeutungsinhalt auseinander. Eine zentrale Frage der Kognitionswissenschaft und Bewusstseinsforschung lautet diesbezüglich: Wo hört die Strukturinformation auf und wo fängt die Bedeutungsinformation an? Immer wieder wird deutlich: Die drei Ebenen Syntax, Semantik und Pragmatik sind im Kontext menschlicher Informationsbearbeitung nicht getrennt zu betrachten. Sie stehen vielmehr in ständiger Wechselbeziehung. Die Überführung von Syntax in Semantik involviert in der Regel eine Verarbeitung auf unterschiedlichen Ebenen. Bei der Dekodierung der Strukturinformation in Semantik (Bedeutung) wird Strukturinformation über Codes in andere Strukturinformation überführt, wobei sich auf den unterschiedlichen semantischen Stufen jeweils Bedeutung für das verarbeitende System entwickelt.› [4] Im letzteren Sinne ist Information (als Bedeutung) nicht etwas, was direkt übermittelt - also passiv aufgenommen - werden kann, sondern immer etwas aktiv Konstruiertes. Der Vertreter des radikalen Konstruktivismus Francisco Varela betont entsprechend: "Information darf nicht als eine an sich gegebene Ordnung aufgefasst werden, sie entsteht erst durch die kognitiven Tätigkeiten."› [5]
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Der Einsatz interaktiver Medien ermöglicht die Weiterführung dieser Gedanken und eine (bildliche) Übersetzung dieser inneren Konstruktionsprozesse auch in eine betrachterabhängige Veränderung des äußeren Objektes. Der Adressat der vorzustellenden Projekte ist dementsprechend nicht nur Betrachter oder Leser, sondern auch Benutzer, Teilnehmer, Forschender, aktiv Handelnder und Formender. Dies reicht von der Möglichkeit der Aktivierung einzelner Elemente und der Anregung bestimmter im Voraus festgelegter Prozesse, bis hin zum konstruktiven Eingriff durch das Subjekt und zur eigenständigen Integration neuer Inhalte und Verknüpfungen. Das Subjekt erkundet den Wissensraum, aktiviert und realisiert diesen in vielen Fällen aber auch erst im Prozess dieser Erkundung. Erst durch das interessegeleitete, zum Teil auch intuitive Handeln des Subjektes werden dann Daten zusammengestellt, Strukturen sichtbar gemacht und Informationen als solche verfügbar. Der Benutzer wird zum eigenen Denken, Erforschen, Handeln aufgefordert. Interaktivität dient hier auch einer Unterstützung des natürlichen, stark assoziativ geprägten Denkens und Lernens.
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Der Idee der passiven Rezeption steht jene der konstruktiven Beobachtung gegenüber. Was spätestens seit Beginn des radikal konstruktivistischen Diskurses › [6] allgemein für die Wahrnehmung gilt, wird bei interaktiven Werken auch nach außen getragen: Der Anteil des Subjektes am Wahrgenommenen. Nicht nur die innere Repräsentation eines Objektes und von Objektzusammenhängen ist hier von den (betrachterinternen) Vorbedingungen der Wahrnehmung, von der Wahrnehmungs- und Interaktionsgeschichte des Subjektes abhängig, sondern auch das äußere Objekt wandelt sich mit den Aktionen des konstruierenden Betrachters. Während auch nichtinteraktive Werke erst im Prozess einer (inneren, aber auch Blickbewegungen und Standortwechsel einbeziehenden) Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Werk zu einer ästhetischen Wirkung gelangen (Wahrnehmung ist stets ein aktiver Prozess), so zeigt sich bei interaktiven Werken auch eine Beeinflussung des äußeren, realen Objektes durch die Handlungen des Teilnehmers.
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Deutlich wird: das, was sich als "Faktum" oder als "Information" präsentiert, wandelt sich mit dem Betrachter, mit der von ihm gewählten Perspektive, seinen Interessen oder der Reihenfolge seiner Handlungen. Der Benutzer trifft nicht auf eine einzige, scheinbar objektive und allgemeingültige Darstellung, etwa auf eine lineare, autoritäre Erzählung.› [7] Vielmehr werden Teilbereiche in Abhängigkeit vom Betrachterverhalten erschließbar, ohne die Möglichkeit anderer alternativer Sichtweisen zu verneinen. "Wissen" erhält hier nicht den Status allgemeiner Gültigkeit, Information präsentiert sich stets als relativ, als abhängig vom gewählten Kontext, vom Zeitpunkt, Perspektive und mitunter der Reihenfolge der Betrachtung.
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Tools und Anwendungen zur Wissenserschließung zeigen ferner eine Abkehr von klassischen Such-Funktionen und eine Ausrichtung auf Navigationskonzepte, die das erforschende Durchwühlen von Datenmengen, das intuitive und assoziationsgeleitete Durchkämmen, ein Streunen unbekannter Informationsräume ermöglichen: "Finden" statt "Suchen". Der Vorteil eines solchen, interessegeleiteten, freien "Browsen"› [8] liegt darin, nicht zu Beginn schon genau wissen zu müssen, was genau gesucht wird. "Wissen" entsteht hier im Prozess einer Interaktion, die mitunter den ganzen Körper mit einbezieht.
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Vilém Flusser verwendet den Begriff der Information im Sinne einer Ordnung von Materie, eines "in eine Form bringens". Während der Weltprozess, entsprechend dem Prinzip der Entropie, beständig zu einem Zustand der Unordnung hinstrebt, also einer Tendenz der Desinformation folgt, sei, so Flusser, der Mensch "ein Wesen, das gegen die sture Tendenz des Universums zur Desinformation engagiert ist. Seit der Mensch seine Hand gegen die ihn angehende Lebenswelt ausstreckt, um sie aufzuhalten, versucht er, auf seinen Umstand Information zu drücken. Seine Antwort auf den "Wärmetod" und den Tod schlechthin ist: informieren."› [9] Ein "in Form bringen" im wörtlichen Sinne, eine Anordnung von Elementen in solcher Weise, dass sie als Information gelesen werden können, gerade angesichts großer, unübersichtlicher und - zumindest scheinbar - chaotischer Datenmengen: das ist das Anliegen einiger der im weiteren Verlauf vorzustellenden Projekte. Sie bieten dem Benutzer Werkzeuge an, mit denen er navigieren, Zusammenhänge auffinden und herstellen, sich Wissen erschließen und eigene Ansichten generieren kann.
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[2] Wissen wird als die Basis sinnvollen und bewussten Handelns verstanden, bildet also das Referenzsystem für die Verarbeitung neuen sensorischen Inputs und hieraus resultierende Aktionen - für das Verstehen und Handeln. [3] Eine mittlerweile klassische Definition des Informationsbegriffs gibt Gregory Bateson in Geist und Natur 1979, S.87. Er schreibt, Information sei, die "Nachricht von einem Unterschied" oder auch: "jeder Unterschied, der einen Unterschied macht". [4] Als pragmatische Information wird eine brauchbare Neuigkeit bezeichnet, die zu Änderungen im rezipierenden System führt, die ohne die Information nicht stattgefunden hätten. [5] Varela, Francisco J.: Kognitionswissenschaft, Kognitionstechnik, 1988, S.18. [6] Der so genannte "radikale Konstruktivismus" versteht, ausgehend von den Thesen Heinz von Försters und Ernst von Glasersfelds - und den Vertretern dieser Denkrichtung innerhalb der Biologie: Humberto Maturana, Francisco Varela und Gerhard Roth - das Gehirn als geschlossenes, autopoietisches System. [vgl. z.B.: Maturana, Humberto M.: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Wiesbaden 1982; Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt / Main 1996; Maturana, Humberto M.: The biological foundations of self consciousness and the physical domain of existence. In: Luhmann, Niklas; Humberto Maturana; Mikio Namiki; Volker Redder; Francisco Varela: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien? München 1990, S.47-117, S.107; siehe auch: Rötzer, Florian, Gerhard Roth: Florian Rötzer im Gespräch mit Gerhard Roth. In: Ars Electronica Festival 1992 » http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/festival_artikel.asp?iProjectID=8838 und: Gold, Peter; A. Engel (Hrsg.): Der Mensch in der Perspektive der Kognitionswissenschaften. Frankfurt / Main 1998. [7] Zum Prinzip der "großen Erzählung", zur Wiederkehr der autoritären Narration in der Wissenschaft vgl. z.B.: Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. (1982) Wien 1994, bes. S.87ff. [8] Bezeichnet "to browse" ursprünglich das Weiden und Abgrasen und im übertragen Sinne das Blättern in einer Zeitschrift und ganz allgemein "sich umsehen", so wird mit browsen auch das (mehr oder weniger gezielte) Suchen nach etwas beschrieben. Der Browser ist eine Software zum Verwalten, Finden und Ansehen von Dateien, insbesondere von Websites im Internet. Die Verwendung des Begriffes reicht also von einem freien Umherschweifen des Blicks, einer ungerichteten Erkundung des Umfeldes bis hin zu einem mehr oder weniger zielgerichteten Suchen. [9] Flusser, V.: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1985, S. 23; vgl. auch: ders.: Für eine Philosophie der Fotografie. (1983) Göttingen 1999, S.76.
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